Eröffnungsvortrag "Carl Benz und die Polytechnische Schule Karlsruhe"

Vortrag gehalten von Dr. Klaus Nippert, Leiter des KIT-Archivs

Foto: Dr. Klaus NippertDas 125. Jubiläum des Automobilbaus gibt dem KIT Gelegenheit, auf die Vielzahl der laufenden Projekte in Sachen Automobilität hinzuweisen, nicht weniger aber den Anlass zur Rückschau auf das Studium unseres wohl berühmtesten Alumnus, des Erfinders Carl Benz. Die von KIT-Bibliothek und KIT-Archiv verwahrten Zeugnisse lassen nicht nur über seine Person reflektieren, sondern auch über den Charakter des Karlsruher Polytechnikums in seiner ersten Glanzzeit. Die in der heute eröffneten Ausstellung gebotenen Dokumente beleuchten diese beiden Aspekte gleichermaßen, und ich möchte Ihnen in den nächsten 20 Minuten behilflich sein, diese unterschiedlichen Sinnschichten zu erschließen.

Der 1844 im heutigen Karlsruher Stadtteil Mühlburg geborene Carl Benz war von seinen Lebensumständen her für ein Studium keineswegs prädestiniert: Der Vater, ein Lokomotivführer, war verstorben, und die Mutter schlug sich zu sehr durch, als dass sie ihrem Sohn den Besuch einer auswärts gelegenen hohen Schule hätte finanzieren können. In Reichweite lag nach Vollendung des Karlsruher Lyceums wohl nur die am gleichen Ort befindliche Polytechnische Schule. Angesichts ganz verschiedener Einrichtungen mit einem solchen Namen ist der Status dieser Bildungsanstalt heute nicht leicht einzuschätzen.

Polytechnische Schulen wurden im deutschsprachigen Raum ab dem frühen 19. Jahrhundert nach dem Vorbild der 1794 in Paris gegründeten École Polytechnique eingerichtet.

Anders als die École bezweckten diese Schulen jedoch nicht vorrangig die Ausbildung von Staatsdienern, insbesondere für das Militär.

Ein besonderes Motiv für die deutschsprachigen Gründungen war die Industrialisierung, für die es an technisch gebildetem Personal fehlte. Auch in einem weiteren Punkt unterschieden sich die deutschsprachigen Polytechnika von der École: Während diese als Stätte einer grundlegenden Instruktion konzipiert war, nach deren Besuch die Schüler weitere Qualifikationen an Spezialschulen erhielten, dienten die Polytechnischen Schulen in der Regel als Stätten einer abschließenden Ausbildung.

Auch in Karlsruhe war dies so, jedenfalls seit der 1832 durch Carl Friedrich Nebenius veranlassten Reform der Polytechnischen Schule. Diese Reform war ein erster Entwicklungsschub in Richtung Technische Hochschule. Ihr wichtigstes Merkmal war die Einteilung des Polytechnikums in Fachschulen.

Nachdem der polytechnische Unterricht, der Name sagt es schon, in der Anfangszeit nur eine schwache fachliche Differenzierung gekannt hatte, begann sich nun jene Fächerstruktur herauszubilden, die um 1900 zum Identitätskern der als Technische Hochschule firmierenden Anstalten gehörte: Architektur, Bauingenieurwesen, Chemie, Maschinenbau und Mathematik. Bei der Nebeniusschen Reform hatte die Karlsruher Schule durch die Eingliederung der Bauschule Friedrich Weinbrenners und der Ingenieurschule Johann Gottfried Tullas einen ersten Meilenstein auf diesem Weg erreicht. Die Ausbildung von Führungspersonal für Industriebetriebe war jedoch in einer weiteren Abteilung, der sogenannten Höheren Gewerbeschule angesiedelt. Deren Ausbildung kann man je nach Blickwinkel als ein im Vergleich mit heutigen Strukturen noch undifferenziertes Gemenge von Fächern oder aber als eine hochinteressante Vorform des Studiengangs der heutigen Wirtschaftsingenieure verstehen.

Erst ein weiterer Schritt machte die Polytechnische Schule zu dem, was sie zu Benz‘ Studienzeit war: „the model school of Germany and perhaps of Europe“. Das Zitat stammt von keinem Geringeren als William Barton Rogers, dem ersten Direktor des Massachusetts Institute of Technology, der vor der Gründung seiner Anstalt das technische Bildungswesen Europas studiert hatte.

Dieser Entwicklungsschritt, mit dem das Karlsruher Polytechnikum Modell wurde, bestand in der Spaltung der Höheren Gewerbeschule in eine Chemisch-Technische und eine Mechanisch-Technische Schule.
Die Beweggründe dürften vor allem in der Tätigkeit der Professoren Ferdinand Redtenbacher und Carl Weltzien liegen. Beide waren zu Beginn der 1840-er Jahre an das Polytechnikum gekommen. Redtenbacher prägte den Maschinenbau überhaupt erst als eigenständige Disziplin, das Mandat hierfür hatte er sich von der badischen Regierung zäh erhandelt. Weltzien trat nicht einmal dreißigjährig als Privatdozent für Chemie an, erhielt aber schnell den Professorentitel und erreichte 1850 den Bau eines Chemischen Instituts, wie es damals in Deutschland noch kaum eines gab.

In der Rückschau erscheint es geradezu zwingend, dass die Höhere Gewerbeschule mit den Leistungsträgern Redtenbacher und Weltzien, die beide ihr Fach zu verselbständigen suchten, nicht mehr lange Bestand hatte. 1847 war es so weit: Die Höhere Gewerbeschule wurde aufgeteilt in die Chemisch-technische Schule und die Mechanisch-technische Schule.

Die in Karlsruhe geprägte Fächergliederung ist bei der 1855 vollzogenen Gründung der Polytechnischen Schule Zürich ebenso zu sehen wie bei den in den 1860er-Jahren erfolgten Reformen der älteren Schulen in Prag und Wien und der Neugründung des Münchner Polytechnikums. Damit war eine kritische Masse erreicht, deren Muster sich die übrigen auf dem Weg zu Technischen Hochschule befindlichen Anstalten bis zum Jahr 1890 anglichen.

Carl Benz hatte also das Glück, an einer Bildungsstätte zu studieren, die sich auf der Höhe der Zeit und einem ersten Höhepunkt ihres Ansehens befand - mit dem Maschinenbauprofessor Ferdinand Redtenbacher als Direktor und Schülermagnet.

Kurz nach 1860 stieg die Zahl der in Karlsruhe Eingeschriebenen auf knapp 900, ein Wert, der nach Redtenbachers Tod im Jahr 1863 erst gegen Ende des Jahrhunderts wieder erreicht wurde.

Wie sah nun ein Maschinenbaustudium zu dieser Zeit aus? Wer sich um 1860 an der Polytechnischen Schule einschrieb, wurde noch nicht als Student, sondern als Schüler oder Elève bezeichnet.

Gleichwohl erlebte man einen der universitären Immatrikulation vergleichbaren Einschreibevorgang, bei dem sich die Schüler eigenhändig in eine Liste eintrugen – das verhalf uns zu dem wohl frühesten Lebenszeichen, das von Benz‘ Hand überliefert ist.

Wie der Immatrikulationsritus nahm auch das der Polytechnischen Schule angelagerte Verbindungswesen den Hochschulstatus vorweg. Wenn wir das aus Benz‘ Studienzeit stammende fotografische Portrait neben jene in der KIT-Bibliothek verwahrten Aufnahmen halten, die von Angehörigen einer Karlsruher Verbindung ausgetauscht wurden, so entsteht leicht der Eindruck, dass Benz ein ähnliches Selbstbewusstsein pflegte, auch wenn ihm wohl die Mittel zur Teilnahme am Verbindungsleben fehlten.

Sehr viel substanzieller ist nun die Feststellung, dass die Schüler des Polytechnikums zu Benz‘ Zeit keine Abschlussprüfungen zu absolvieren hatten. Stattdessen gab es anfangs noch die schulisch anmutenden Versetzungsprüfungen für den Übergang in das nächste Studienjahr – die Semestereinteilung des Lehrbetriebs kam erst 1873. Benz hatte sich diesen Versetzungsprüfungen nach den ersten beiden seiner vier Studienjahre zu unterziehen, dann wurden sie abgeschafft, auch dies ein Schritt des Polytechnikums in Richtung Hochschule. Die Veränderung erklärt uns, weshalb auf den ersten beiden von Benz‘ Jahreszeugnissen noch der Vermerk „Wird promovirt“ erscheint, im dritten hingegen nicht mehr.

Die Zeugnisse geben Aufschluss, was Benz am Polytechnikum lernte. Es fällt auf, dass der Unterricht der 1. Mathematischen Klasse neben den als einzelne Fächer ausgewiesenen Gebieten von Algebra, Geometrie, Trigonometrie und darstellender Geometrie auch einen allgemeinbildendes Spektrum enthält: Religion, Deutsch, Französisch und Geschichte, sowie Freihandzeichnen und Kalligraphie, die der Techniker für das Fertigen von Entwürfen und Plänen benötigte.

Mit der 2. Mathematischen Klasse stieg der fachliche Anspruch merklich. Auf dem Programm standen nun Differential- und Integralrechnung, Trigonometrie, Analytische Geometrie und Darstellende Geometrie, daneben Physik, Mechanik und Freihandzeichnen. Der allgemeinbildende Anteil ist nun reduziert auf den Unterricht in der deutschen Sprache.

Das eigentliche Fachstudium begann im Studienjahr 1862/63 mit dem Wechsel in die nun so genannte Maschinenbauschule. Das Jahreszeugnis bescheinigt Benz den Besuch von Veranstaltungen in Maschinenbau, der sich in Vorträge und Konstruktionsübungen gliederte, zu Wasser- und Straßenbau, Mechanischer Technologie – der Kunde bestimmter maschineller Verfahren - und deren Gegenstück Chemische Technologie. Daneben besuchte Benz die Geschichtsvorlesungen des liberalen Historikers Hermann Baumgarten. Damit entschied er sich gegen die gleichzeitig angebotenen praktischen Übungen in der Mechanischen Werkstätte. Vielleicht ist dies ein Hinweis auf politische Interessen des Maschinenbauschülers Benz.

Das letzte der Zeugnisse für Benz fällt etwas aus dem Rahmen: Es besteht nicht aus dem vorgedruckten Formular der ersten drei Jahre, sondern aus einem frei formulierten Text des Maschinenbauprofessors Josef Hart, wonach Benz sich in dessen Lehrveranstaltungen und den dazugehörigen Konstruktionsübungen – Zitat – „durch Ausdauer im Arbeiten sowie durch gesetztes Betragen“ die Zufriedenheit des Lehrers erworben hatte.

Wirft man einen Blick in die von KIT-Bibliothek und KIT-Archiv verwahrten Nachschriften von Lehrveranstaltungen aus Benz’ Studienzeit, so wird deutlich, dass das Curriculum zu einem großen Teil aus mathematischem Rüstzeug bestand, mit dem etwa Maschinenteile im Hinblick auf die von ihnen zu übertragenden Kräfte dimensioniert werden konnten. Ein anderes, wesentliches Element ist die Kunde der grundlegenden Konstruktionsformen und die Vermittlung bestimmter Maschinentypen, etwa Wasserräder, Turbinen oder Dampfmaschinen.

Einen Hinweis auf den zu Beginn der 1860er-Jahre durch die Arbeiten Lenoirs bekannt werdenden Verbrennungsmotor und dessen Anwendung in einem freilich noch nicht marktreifen Automobil habe ich hingegen nicht gefunden. Dass die Frage nach der künftigen Technik der Kraftmaschine und nach der Automobilität im Raum stand, dürfte aufmerksamen Maschinenbauschülern zu Beginn 1860er-Jahre kaum entgangen sein. Die erhaltenen Belege für den Inhalt der Maschinenbaulehre um 1860 zeigen aber, dass es bis zum praxistauglichen und marktfähigen Automobil noch eines Stück Weges bedurfte.

Vor diesem Hintergrund ist der Beitrag der Polytechnischen Schule Karlsruhe zur Entwicklung des Automobils vor allem als die Vermittlung unabdingbarer Grundlagen zu würdigen. Bevor Carl Benz ein Fahrzeug mit kleinem Verbrennungsmotor entwickelte, hatte er langjährige praktische Erfahrungen zunächst als Industrieschlosser, dann als Konstrukteur und schließlich als Fabrikant gesammelt. Die so gewonnenen Kenntnisse von Produktion und Markt dürften für den schließlichen Erfolg als Automobilbauer ebenso wichtig gewesen sein wie die Karlsruher Ausbildung.

Jedenfalls ist es offensichtlich, dass sich Benz der Stätte seiner technischen Ausbildung mit Dankbarkeit erinnerte. Der Wert einschlägiger Äußerungen in seiner Autobiografie wird durch die Tatsache eingeschränkt, dass diese Schrift von einem Ghostwriter stammt. Für sich spricht jedoch die Tatsache, dass die Fridericiana im Jahr 1913 das von der Firma Carl Benz & Compagnie gewonnene Preisgeld von 50.000 Goldmark für den besten deutschen Flugmotor als Stiftung erhielt.

Die ein Jahr später erfolgte Verleihung der Ehrendoktorwürde an Carl Benz ist vor diesem Hintergrund wohl auch als eine Erwiderung auf die Dankbarkeit des ehemaligen Schülers zu sehen. Dass Benz der Hochschule bis in seine letzten Jahre verbunden blieb, zeigt sein Eintrag in der Mitgliederliste der 1923 gegründeten Gemeinschaft ehemaliger Angehöriger der Technischen Hochschule Karlsruhe. Das Gründungsjahr der Vereinigung lag wohl nicht zufällig im Jahr der Währungskrise: In der Folge der Vermögensabwertung startete die Hochschule vielfältige Bemühungen auf dem Gebiet des fund raising, um in der Konkurrenz der THs wettbewerbsfähig zu bleiben.

Mit Benz‘ Studium betrachten wir nicht nur die Grundlage eines erfolgreichen Lebens. Mit der Eigenart der Karlsruher Ausbildung fassen wir eine vergangene Epoche, die mit dem Unterschied zu den heutigen Verhältnissen auch das Bewusstsein für den gegenwärtigen Charakter des KIT schärft. Benz‘ Studium trug noch starke Züge des Schulbetriebs, es entbehrte der Abschlussprüfung als Gegenstück zum universitären Examen und es war vor allem auf die Vermittlung gesicherter Lehrinhalte gerichtet. Forschung und Entwicklung und das Streben nach der Umsetzung ihrer Ergebnisse in Innovationen – das ist die Biografie des Alumnus, nicht aber des Schülers Benz. Mit dieser deutlich wahrgenommenen Gliederung fassen wir zum Schluss einen der wesentlichen Unterschiede zwischen der Polytechnischen Schule und dem heutigen KIT, an dem schon Studierende die Chance haben, neben der ihnen zugedachten Lehre Einblick in den Prozess der Forschung und in deren Nutzbarmachung zu nehmen.